Harry Quinn

Mighty Quinn

Rote Fahrräder haben mich schon immer fasziniert, das liegt wohl auch daran, das mein erstes Rennrad auch eine rote Lackierung besitzt.
Morgens nach dem Aufwachen checke ich immer noch einmal meine Suchaufträge in den Kleinanzeigen und hoffe auf einen Schnapper aus der Nacht, den noch keiner vor mir gesehen hat. An einem trüben Frühlingsmorgen entdecke ich mit Freude so eine interessante Anzeige. Ein seltener englischer Rahmen? Super Zustand, super Aussstattung und vor allem aus super, super, super seltenen italienischen Rohren gefertigt: Columbus EL, Extra Leggeri, mystischer geht es nicht. Von diesem Zeug hatte ich bisher nur raunen gehört. Unscharfe Produktübersichten aus den 70ern, Grüchte in schrägen Fahrrad-Foren. Im Gegensatz zum doch eher häufigen Reynolds 753 R durfte ich das EL Gestänge von Columbus noch nie in eigenen Augenschein nehmen, geschweige denn fahren.
Das liegt wohl auch einfach daran, dass diese Rohre nur für leichte Fahrer am Berg und im Zeitfahren gedacht sind und mit einer Wandstärke am Oberrohr von hauchdünnen 07/04/07 bekommt man dann doch bedenken, ob da eine Zuladung von 87 Kilo Fahrergewicht in meinem Falle noch wirklich sinnvoll erscheint ;-). Reynolds brachte es beim 753 R auf „nur“ 07/05/07 Wandstärke, und das war auch nicht gerade der Ausbund an Vernunft. Ich denke es hat seinen Grund warum diese extremen Spezifikationen vom Markt verschwunden sind.
Zum Glück sind diese technischen Werte heute in Zeiten von Carbon nicht mehr so wichtig, wer etwas wirklich leichtes und empfindliches fahren will der kauft sich eben einen frisierten Yogurth-Sondermüll-Becher aus Epoxi und Kohle. Bleiben wir beim Stahl, dann geht es um eine lächerliche Gewichtsersparnis von vielleicht 100 – 200 Gramm auf den kompletten Rahmen gegenüber einem „normalen 531“ oder einem Columbus SL und da kann man als schwerer Fahrer auch mal gerne etwas weniger frühstücken um das auszugleichen.

Nichts desto trotz ist aber so ein seltenes Geröhr etwas, das bei einem Aficionado wie mir sofort den Jagdtrieb auslöst und das nicht nur dafür, um dieses Gefährt zu kaufen sondern auch um mich etwas mit der Geschichte dieses Rades, bzw. mit der Geschichte seines Erbauers zu befassen. Alleine die aggressive Geometrie mit dem kurzen Radstand, dem steilen Steuerrohrwinkel und den Details der pantografierten Muffen und den innen verlegten Zügen, auch für die Schaltung, machen diesen Rahmen zu einem echten Leckerbissen. Mit 9,5 Kilo an der Kofferwaage trotz Drahtreifen sind auch die physikalischen Werte dieses 57er Rahmens beeindruckend. An der Ampel oder am Berg verspricht das superbe Flugeigenschaften, selbst für einen alternden Amateur wie mich.

Der Name deutete natürlich auf eine Herkunft von den britischen Inseln hin und so ist es auch. Das Rad kommt wohl aus Wales. Seine Erbauer sind aber echte Engländer aus Liverpool.
Ursprünglich hieß die Firma mal Coronet Cycles, gegründet 1890. Harry Quinn war der Sohn des gleichnamigen Firmengründers. Er übernahm die Firma wohl zusammen mit seinen Brüdern Ronnie und Jack und benannte sie in Quinn Bros. Cycles. Harry Quinn wurde einer der einflussreichesten Rahmenbauer für die englische Rennradszene und natürlich auch ein kompetenter Ausbilder für den Nachwuchs der englischen Lötkünstler. 1950 wird die Firma in „Harry Quinn“ umbenannt; keep it simple. 1977 verkauft Harry das Geschäft an Frank Clements, bleibt aber, trotz eines Augenleidens, der Master Frame Builder der Firma. In den 80ern kauft Harry mit seinem Sohn Peter die Firma zurück und der Firmensitz wandert auf die Ivy Tower Farm, St Florence, nahe Tenby Pembrokeshire in Wales. 1990 schließt die kleine Manufaktur die Tore, wie so viele traditionsreiche Manufakturen im vereinigten englischen Königreich zu dieser Zeit. Alumium und Carbon aus Asien, hergestellt von seelenlosen Robotern eroberen zu günstigen Preisen den Weltmarkt.

Wer sich auch noch andere Quinn-Räder ansehen möchte besucht diese Seite hier: classicrendezvous.com

Harry Quinn war übrigens 1979 neben TI Raleigh und Bob Jackson die einzige Firma in England mit einer offiziellen Qualifizierung zum Verarbeiten der legendären 753-R-Rohre. Ohne diese Lizenz wurde man von Reynolds nicht beliefert. Durch Überhitzung beim Löten konnten die dünnen Rohre beschädigt werden. Ich denke das selbe galt auch für das Columbus EL Geröhr aus Italien.

Die hier vorgestellte Maschine muss wohl in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre gebaut worden sein, vielleicht von Sohnemann Peter Quinn? Das Herstellungsjahr kann ich auf die Mitte bis zum Ende der 80er-Jahre nur vermuten, aufgrund einiger Details wie der geraden Gabel und den innenverlegten hinteren Brems- und Schaltzügen. Das Einbaumaß für die Laufräder ist richtig knapp, moderne 25 mm Mäntel schleifen an der Gabel und Bremsbrücke, echt krass wie man heute so sagt. Die Bilder zeigen den Fundzustand nach dem Kauf. Verbaut wurde eine komplette Superbe Pro Gruppe von Suntour, damals schon auf dem absteigenden Ast auf dem Teilemarkt, aber mit der hier schon indexierten Siebenfachschalte auf dem Höhepunkt ihrer technischen Entwicklung.

Leider war Shimano ab 1985 auf dem Weg zum dominierenden Gruppenlieferanten wegen vieler Fehlentscheidungen des einstigen Marktführers und Hauptkonkurrenten Suntour ab 1987 nicht mehr zu stoppen. Wer das genauer wissen will, sollte sich einmal Frank J. Bertos Artikel hervoragenden Artikel „The Sunset of Suntour“ dazu durchlesen.

Aber zurück zu mighty Harry: Joachim, der Verkäufer des roten Renners arbeitet in Kiel seit Jahrzehnten als Fahrradverkäufer und stattete das Rad am Ende der 80er mit der Suntour-Top-Gruppe von der Resterampe aus, die lag wohl noch irgendwo in einer Schublade. Viel gefahren wurde das Schmuckstück danach zum Glück nicht mehr.

Leider ist das Rad einen Tick zu klein für mich und die Rohre sind etwas zu dünn für meinen Geschmack, also übernahm die Maschine am Ende mein Freund Matthias in Hamburg. Der passt als etwas kleinerer und leichterer Fahrer wesentlich besser zu dieser Perle. Für mich ist dieses Rad das schönste und seltenste, was ich von den englischen Inseln bisher gesehen habe. Matthias hat das Rad dann mit einem weißen Turbo und einem schönen Cinelli-Vorbau zu einem wirklichen Sammlerstück veredelt.


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